Die digitale Vergesslichkeit

Es ist bereits zwei Jahre her seit meinem ersten Blog. Also werde ich meinem Mitteilungsbedürfnis mal wieder Raum verschaffen und mir einen Gedanken von der Seele schreiben…

Ich bin in eine Welt hinein gewachsen, die gerade den Übergang in das digitale Zeitalter erlebte. Als ich das Licht der Welt erblickte, begann gerade die digitale Revolution. Mitte der 1970er Jahre hatte eigentlich kein Privathaushalt einen Computer. Selbst Firmen hatten nur gelegentlich eine dieser Höllenmaschinen in ihrem Besitz. Ein Telefon hatte noch lange nicht jeder Haushalt und das Wort Kommunikation bedeutete in erster Linie, in gemütlicher Runde zusammen sitzen und über Gott und die Welt plaudern.

Im Verlauf der 1980er Jahre startete der Heimcomputer seinen Siegeszug. Die Commodore Ära mit dem VC-20, dem C64 und der Amiga-Reihe begann. Aber auch Atari mit den Spielekonsolen und dem späteren Heimcomputer Atari-ST, behaupteten sich auf dem Markt. Ebenso eroberte Nintendo den Markt mit seinen Spielekonsolen, wie dem NES und dem darauf folgenden SNES. Inzwischen hatte eigentlich fast jeder Haushalt ein Telefon.

Die 1970er und 1980er Jahre waren ansonsten weitestgehend klassisch geprägt, was das nachschlagen, sammeln und verbreiten von Informationen angeht. Eigentlich jeder Haushalt besaß irgendeine Form eines gedruckten Nachschlagewerkes verschiedener Themengebiete. Ein Lexikon, einen Duden und wenn man schon besser ausgestattet war, eine Enzyklopädie. Oft gab es das Ganze als Buchreihe, so zum Beispiel der Brockhaus oder andere. Die Medien verbreiteten halbwegs Aktuelle Informationen über Radio und Fernsehen (Als Anmerkung hierzu möchte ich noch erwähnen, dass es damals zuerst noch keine privaten Radio- oder Fernsehsender gab). Wissen und Information merke man sich, soweit man es persönlich für wichtig hielt. Wollte man etwas genauer wissen, nahm man das passende Buch aus dem Regal, schlug nach und merkte es sich so gut es eben ging. Auch Informationen aus den Medien merkte man sich im Rahmen der eigenen Interessen. Der ein oder andere zeichnete gelegentlich Radio- oder Fernsehsendungen auf Band auf (Band bedeutet, ein analoges Magnetaufzeichnungsverfahren wie Musikkassette oder VHS-Video), oder machte sich schriftliche Notizen (mit Papier und Stift), aber im Allgemeinen benutzte man seinen persönlichen, natürlichen Informations-Schwamm namens Gehirn.  Worauf ich hinaus möchte ist: Jeder war es gewohnt, sich Informationen zu merken, ohne dafür auf größere technische Hilfsmittel zurück zu greifen.

In den 1990er Jahren veränderte sich – vor allem ab der Mitte der Dekade – vieles. Mit der Einführung des HTTP-Protokolls im Internet und der Gründung des World Wide Web, erfuhr das Internet einen revolutionären Hype. Etwa ab 1994 ging es dann richtig los, 1997 war der Begriff Internet und World Wide Web bereits in aller Munde. Heute im Jahr 2011 ist “Das Netz” allgegenwärtig und eng verstrickt mit unserem Alltag, ganz gleich ob man ein “Offliner” oder “Onliner” ist. Das Web, das Netz, das Internet oder wie auch immer man es nennen mag, hat unser Leben und die Sicht auf die Dinge grundlegend verändert. Oder doch nicht? Aber das ist ein anderes Thema.

Wie gehen wir heute mit Informationen um? Was tun wir, wenn wir etwas wissen wollen? Wo ist unser Wissen gespeichert? In Büchern? In unseren Köpfen? Sicherlich ist das zum Teil noch immer so, aber es hat sich bereits deutlich verändert.

Während wir uns früher zwangsläufig alles merken mussten oder ggf. ein Notiz- und Adressbuch hatten, sind es heute ganz andere Mittel, die wir verwenden. Heute merken wir uns keine Telefonnummern mehr, heute speichern wir Kontakte in Mobiltelefonen und digitalen Adressbüchern. Kontakte werden ausgeweitet auf Online verfügbare Benutzerprofile bei Facebook & Co. Telefonnummern sind inzwischen kaum mehr als eine IP-Adresse in Netz, denn wer wählt schon noch eine Nummer, wenn er doch nur den Kontakt auf seinem Smartphone anklicken muss. Im beruflichen Umfeld wird auch kaum noch eine Nummer gewählt, denn die Datenbank hat alle Daten und der Kontakt wird einfach aufgerufen. Den Rest macht der PC, der per CTI mit dem Telefon verbunden ist. Also was merkt man sich eigentlich noch?

Wer sind eigentlich meine Freunde? Freunde, das waren früher diejenigen Menschen, mit denen man abends abhing, die man regelmäßig traf und mit denen man eine tolle Zeit verbrachte. Laut Facebook und anderen sozialen Netzwerken sind wir inzwischen alle “Freunde”. Eine Differenzierung lässt sich nur noch durch zusätzliche Attribute in der Datenbank schaffen. Bekannte, gute Bekannte, das war einmal. Heute will auch jeder mit jedem befreundet sein. Wehe dem, der die Freundschaftsanfrage der Kassiererin im Supermarkt nicht akzeptiert, die einen ja immerhin mindestens einmal die Woche freundlich grüßt, während man sein Geld los wird. Aber ich schweife ab…

Mal ganz ehrlich. Viele speichern ihre Kontaktdaten inzwischen fast nur noch online oder auf  mobilen Endgeräten. Ein handgeschriebenes Adressbuch haben nur noch wenige. Die guten alten Karteikärtchen sind inzwischen auch schon vom aussterben bedroht. Telefonnummern, Adressen, Namen, alles ist digital gespeichert. Unternehmen, mit denen man früher maximal einen sporadischen Schriftwechsel gehabt hätte, speichern heute unsere Daten. Google, Facebook, Microsoft, Telekom, die Liste wäre lang. Diese Unternehmen sind heute unsere Notizzettel, Adressbücher, Telefonbücher und wir verkaufen fröhlich unsere Seelen. Aber was ist, wenn diese Unternehmen plötzlich entscheiden, einen Dienst einzustellen, oder sie Konkurs gehen, oder aber es gibt einen technischen GAU und alle Informationen sind verschwunden? Wir nutzen die Dienste meist Kostenlos. Wir haben keinen Anspruch auf den Erhalt unserer Daten. Würde der Anbieter unserer Wahl die von uns dort hinterlegten Kontakte löschen, wüssten wir dann noch, wen wir kennen? Die Telefonnummer vom besten Kumpel wüssten wir im Zweifelsfalle auch nicht mehr, oder sogar die eigene?

Dann gibt es auch noch das allgemeine Wissen, das wir früher im Regal hatten (Lexika, Duden, et cetera). Heute gibt eine Unmenge an Informationen zu allen Themen online. Nicht nur Wikipedia, sondern auch die vielen einzelnen Internetseiten sind unsere Quelle für Informationen zu allen Themenbereichen. Wer schaut schon noch in ein Lexikon? Zugegeben, der Zugriff auf Informationen im Web ist bequem, umfangreich und – so hofft man – auf dem aktuellsten Stand. Aber merken wir uns noch, was wir da lesen? Können wir die Flut an Information den selbst noch verarbeiten? Hätte man früher so oft in einem Lexikon nachgeschlagen, wie man heute im Web recherchiert, man hätte das Lexikon nie aus der Hand legen dürfen. Und da wir heute auch mobiles Internet haben, müssen wir uns auch nichts mehr merken, denn es ist ja immer und überall verfügbar. Ohjeh…

Neben all den Diskussionen um Datenschutz, Datenmissbrauch, der Tatsache, dass wir heute unsere Seelen an Konzerne wie Apple verkaufen, vergessen wir anscheinend, wie abhängig wir uns gemacht haben. Menschen, die es genauer nehmen mit dem Erhalt ihrer Kontakte, werden immer seltener. Selbst ich spüre das ich mich so langsam dieser modernen Verhaltensweise angleiche. Wir verlassen uns blind darauf dass nichts schief geht. Die Technik scheint so wunderbar perfekt zu funktionieren. Und wenn wie kürzlich in Hannover der Strom komplett ausfällt und weder Datennetz, PC, noch Handy mehr funktionieren? Was dann? Wo ist unser Wissen dann?

Natürlich ist es nicht so, dass wir zwingend davon ausgehen müssen, dass wir alle ganz plötzlich alles verlieren, wie nach einem Wohnungsbrand, aber wir verlieren die Fähigkeit, uns Informationen selbst zu merken. Wir werden immer abhängiger von technischen Hilfsmitteln, obwohl wir doch eigentlich unseren eigenen Verstand hätten, der vieles noch immer zu leisten vermag. Wir stehen kurz davor, uns des eigenen Langzeitgedächtnisses zu entledigen.

Wollen wir wirklich so abhängig von Konzernen werden? Wollen wir wirklich das Risiko eingehen, am Ende vor dem Informationellen Nichts zu stehen? Niemand kann uns eine Garantie geben, dass alles so weitergeht, wie bisher. Zwar hat das Web unser Wissen sehr deutlich erweitert, aber viele verlassen sich heute mehr darauf, dass sie etwas im Web nachschlagen und wiederfinden können, als dass sie es sich einfach merken. Auch die Art wie wir Information filtern hat sich verändert. Es ist ein schleichender Prozess. Wir merken überhaupt nicht, dass wir uns das eigene Denken abgewöhnen, dass wir uns nichts mehr merken können. Man beobachtet, wie die Leute immer wieder die gleichen Fehler machen, vielleicht ist das auch eine Folge des Prozesses. Aber ich möchte es auch nicht überspitzen. Tatsache ist doch, dass wir heute zum Teil überhaupt nicht mehr wissen, wie unser Alltag, unser Sozialgefüge, unser Leben aussähe, wenn wir plötzlich kein Internet und keine Smartphones mehr hätten. Die jüngeren Generationen “funktionieren” womöglich gar nicht mehr ohne das Netz. Star Trek Fans werden verstehen, wenn ich sage, wir entwickeln uns zu Borg, die ohne das Kollektiv nicht existieren können. Wir werden immer abhängiger vom Netz, wir machen uns zu Sklaven der Industrie und wir verkaufen unsere Seelen an einzelne Unternehmen, die sich förmlich von unserer Unfähigkeit und Bequemlichkeit ernähren können. Die Matrix ist gar nicht so fern, wie man denkt, sie sieht nur anders aus, als in den Filmen dargestellt.

Aber ich will hier nicht das weltweite Datennetz zerreißen. Ich möchte auch nicht behaupten, das Internet sei der Beelzebub persönlich. Auch den Unternehmen, die uns soziale Netzwerke und allerlei Bequemlichkeiten beschert haben, möchte ich nicht pauschal auf den Scheiterhaufen werfen. Vielmehr sehe ich das Problem in der Gesellschaft und eben bei jedem einzelnen. Die Sensibilität fehlt, das Bewusstsein, was wir aufgeben und was für Risiken wir eingehen. Trotz aller Bereicherung sollten wir nicht zu sehr in dieser schönen neuen Welt verfallen und glauben, alles wäre sicher und gut.

Heute speichern wir so ziemlich alles digital. Kontakte, Dokumente, Fotos, Videos. Selbst wenn wir es selbst speichern auf Festplatten,  CDs, DVDs, wie auch immer, wir glauben, die Daten wären sicher. Doch in Wirklichkeit sind sie flüchtiger als es den meisten bewusst ist. Ein Fotoabzug von z.B. 1920 ist  noch immer vorhanden, selbst nach nahezu 100 Jahren. Doch was ist mit Fotos auf einer SD-Karte in 20 Jahren? Was ist mit den Daten auf Disketten aus den 1980ern? Wer kopiert seine Digitalen Werte regelmäßig auf neue Medien um? Wer glaubt, seine Daten wären in der Cloud sicher?

Ich lebe nun schon sehr lange in der “digitalen Realität”. Ich sehe ein großes dunkles Zeitalter aufkommen. Was wird eine Zivilisation in 1000 Jahren noch von unserer heutigen Welt finden? Was werden sie Wissen über unser Leben? Wenn wir viel Glück haben, überleben die Bits und Bytes die Jahrhunderte. Wenn wir viel Glück haben, wird unser kollektives Gedächtnis überdauern. Doch was wenn nicht? Was, wenn der große Blackout kommt? Was wenn ein kosmischer EMP unsere digitale Existenz auslöscht?

Endzeitstimmung möchte ich hier nicht beschwören, aber es ist eine Tatsache: Wir spielen mit dem Feuer. So wie in der Antike der Brand der Bibliothek von Alexandria einen Großteil des damaligen Wissensschatzes unwiederbringlich vernichtete, so könnte es uns heute mit dem Wissen des Digitalzeitalters ergehen. Aber selbst wenn nicht das Wissen der gesamten Menschheit betroffen wäre, so sollte doch jeder um seine eigenen Dinge besorgt sein. Vielleicht wäre es hilfreich, doch einmal wieder Papier und Stift zu nehmen, und die wichtigsten Telefonnummern notieren. Und die geliebten Fotos der Familie, der Urlaubsreisen und der letzten Parties einfach mal beim Fotolabor der Wahl auf Papier zu bringen, wäre sicher für die nachfolgenden Generationen auch eine nette Geste.

Ich habe diesen Text nicht ausgedruckt und abgeheftet. Auch habe ich keine handschriftlichen Notizen gemacht. Es muss auch nicht jeder Gedankenausbruch für die Nachwelt erhalten bleiben. Aber wenn der Leser dieser Zeilen seinen Verstand gebraucht und sich den groben Inhalt merkt, es vielleicht sogar weiter erzählt, dann bleibt es auch so im kollektiven Gedächtnis, ganz ohne Bits und Bytes.